Zeit für Lyrik

Welttag der Poesie in der Buchhandlung Rote Zora

So. 21.03.21 - So. 18.04.21

Ausstellung moderner Lyrik vom 21. März- 18. April

Die Buchhandlung Rote Zora in Merzig präsentiert zum Welttag der Poesie, dem 21. März, moderne Lyrik.  In Schaufenster und in der Buchhandlug werden Gedichtbände die Lyrikexpert*innen ausgewählt haben, gezeigt und damit auch ein Wegweiser durch den Dschungel der Neuerscheinungen geboten. „Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt ein Gedicht gelesen? Können Sie noch eines auswendig?“ fragt Gertrud Selzer von der Buchhandlung Rote Zora und weist darauf hin, „das eigentlich immer Zeit für Poesie ist.“ Die Ausstellung ist vom 21. März bis 18. April zu sehen.

Interessierte können in der Buchhandlung ein kleines Heft erhalten, indem die Lyrikbände vorgestellt sind. Die Buchhandlung Rote Zora arbeitet bei diesem Projekt zusammen mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett, https://www.haus-fuer-poesie.org/de/literaturwerkstatt-berlin/home/ dem Haus für Poesie, dem Deutschen Bibliotheksverband und dem Deutsche Literaturfonds.

Die Empfehlenden sind: Nico Bleutge (Lyriker, Kritiker), Nora Bossong (Lyrikerin, Prosaautorin),
Florian Kessler (Lektor), Michael Krüger (Lyriker, Prosaautor), Kristina Maidt-Zinke (Literatur- und Musikkritikerin), Christian Metz(Literaturwissenschaftler, Kritiker), Marion Poschmann (Lyrikerin, Prosaautorin), Joachim Sartorius (Lyriker, Herausgeber, Übersetzer), Daniela Strigl (Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin) und Uljana Wolf (Lyrikerin, Übersetzerin, Essayistin).

Hier können Sie sich Videos mit Lyrik Rezitationen aus den vorgestellten Bänden ansehen und vor allem anhören. Außerdem gibt es Materialien für die Arbeit mit Kindern (ab 10 Jahre) und Jugendlichen.

 

H. C. Artmann

Übrig blieb ein moosgrüner Apfel

Empfehlung von Daniela Strigl

Das ist nun eine Blütenlese im schönsten Wortsinn. Der Band präsentiert botanische Stücke des ins unverdiente Halbdunkel geratenen Büchner-Preisträgers H. C. Artmann (1921–2000) aus allen Schaffensphasen und in vielerlei Gestalt. Da gibt es melancholische Spätestromantik, die Travestie exotischer Formen, Sprachspiele und Scherze, ironische Oden und makellose Haikus und einige – fern der Wiener Peripherie wohl mysteriöse – Dialektgedichte nach der Art von Artmanns Debüt med ana schwoazzn dintn. Bald schwelgerisch, bald wortkarg, aber immer mit taufrischer poetischer Empfindung hantiert Artmann mit Blumen, Bäumen und Früchten, nicht selten mit erotischer Symboldeutlichkeit: „alle meine küsse will ich eintauschen mit dir / gegen nichts als zwei rote beeren ...“. „Weise und magisch“, wie Clemens J. Setz im Nachwort meint, eignen sich so manche Verse „als Zaubersprüche für Garten und Hausgebrauch“: „ich bitte euch ihr unsichtbaren / beim zauber euch gehorsamer pflanzen / entgiftet mir diesen schierling“.

Mit Illustrationen von Christian Thanhäuser und einem Nachwort von Clemens J. Setz.

Insel, Berlin 2021, 97 Seiten, 14 €

Sujata Bhatt

Die Stinkrose

Empfehlung von Nora Bossong

Sujata Bhatt nimmt uns mit auf eine Weltreise – oder doch auf eine Reise nach Haus? Mit ihren Zeilen schreitet sie Orte ihrer Kindheit ab, lässt uns teilhaben daran, wie sie am frühen Morgen ihrer Mutter zusieht, die sich in ihren Sari kleidet, wir begleiten sie aber auch über die Brooklyn Bridge und ins Bremer Moor. Das Schicksal ganz unterschiedlicher Frauen gibt dem Band seinen Grund, und so, wie Bhatt zwischen den scheinbar weit auseinanderliegenden Orten und Zeiten von einer Seite auf die andere wechselt, so bringt sie scheinbar weit auseinanderliegende Gefühle zusammen, die Zärtlichkeit für Fledermäuse, das Staunen über Heidelbeeren und die Verzweiflung einer Frau, die bei einem Schiffsunglück vor Juist alles verlor, ihre Kinder, ihren Mann, ihre Hoffnung. Sie verschränkt Stimmlagen, vom plattdeutschen Gesang bis zur Beschwörung der Muse. Humor und Trauer, Schrecken und Schönheit stehen bei ihr so nah beieinander, dass wir beim Lesen merken, es sind keine Gegensätze, sondern korrespondierende Elemente, wie die Zehen des Knoblauchs eine eigenwillige Rose zusammensetzen.
Englisch – Deutsch. Übersetzt von Jan Wagner.

Hanser, München 2020, 171 Seiten, 20 €

Carla Cerda

Loops

Empfehlung von Uljana Wolf

Hier spricht das Labor unseres lyrischen Mikrobioms, auf das wir warteten – und sei es, um endlich das Wort „Mikrobiom“ nachzuschlagen. Oder „Junk-DNA“. Oder die „Plüsch-Schicht“ der Sprache kritisch aufzuruffeln. Carla Cerdas aufregendes Debüt, irre komponiert und zugleich mit der kirren Lässigkeit von Forschertagebüchern, verknüpft Worte und Codes, wandernde Meteorologinnen, Lithium-Abbau in Chile, Aktienindexe, die barocke Dichterin Sor Juana de la Cruz und die Frage, wie ein Körper „in Echtzeit auf Ereignisse reagiert“. Ganz nah ist das an unseren gegenwärtigen Arbeits- und Produktionsbedingungen, die immer auch Extraktionen sind – von Rohstoffen, von Relationen, von Sprache: „ist das schon Fracking? leicht wie Lithium bist du aus einer entlegenen Baby-Galaxy geploppt.“ Wer das liest, wird selbst zur Forschenden, ploppt „weit hinter die lyrischen Halden“ in neue Formen, öffnet Tabs wie neobarocke Fächer, wozu das Buch bemerkt: „ich öffne alle Tabs gleichzeitig und sage ‚Lyrik‘ dazu.“ Wie wir es auch nennen, in diese hellwache Sprachgegenwärtigkeit sind wir gerne geloopt.

roughbooks, Schupfart 2020, 50 Seiten, 8 €

Semra Ertan

Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı

Empfehlung von Florian Kessler

Dieses Buch erzählt ungeheuer anschaulich davon, wie die deutsche Literatur hergestellt wurde und wird. Denn die trotzigen, hoffnungsvollen, schmerzhaften, oft sowohl auf Türkisch als auch auf Deutsch geschriebenen Gedichte von Semra Ertan, die 1971 als Vierzehnjährige aus dem türkischen Mersin nach Deutschland kam, bewegten sich Zeit ihres Lebens jenseits von dem, was dem Kulturbetrieb als wesentlich galt. „Mein Name ist Ausländer / Ich arbeite hier, / Ich weiß, wie ich arbeite, / Ob die Deutschen es auch wissen?“, so dichtete sie. Das Politische und das Schöne, der Kampf um Teilhabe wie um Ästhetik fielen bei ihr immer wieder in eins. Semra Ertan verbrannte sich 1982 mit 25 Jahren in Hamburg aus Protest gegen den Rassismus. Die DPA titelte damals lediglich: „Türkin erlag Verletzungen“. Die im Band enthaltene Dokumentation und die Gedichte Ertans selbst erzählen davon, dass ihre Geschichte viel mehr war als lediglich die Geschichte irgendeiner Nationalität. Wie würde sie heute dichten?

Deutsch & Türkisch. Übersetzt von Zühal Bilir-Meier, Can-Peter Meier, Cana Bilir-Meier, Hans-Peter Meier.

edition assemblage, Münster 2020, 223 Seiten, 18 €

Dorothea Grünzweig

Plötzlich alles da

Empfehlung von Nora Bossong

Bilder der großen »erdenkleine« sind es, die Dorothea Grünzweigs Gedichtband durchziehen. Durch Finnlands Landschaft und an die düsteren Flecken seiner Geschichte streift sie und hört aus der Ferne von den »schmerzhöfchen« ihrer Mutter, die im Dunkel des Pflegeheimzimmers ihre Tochter sucht. Eine Drosseltrauer liegt über dem Frühling, und die Rentiere weiden mit ihren Jungen, es ist eine stille, existentielle Verschwisterung zwischen Mensch und Natur, die hier aufscheint, und die samischen Sommermonde sind, »wie wenn der Tod nicht sei«. Grünzweigs Sprache ist so überraschend wie genau, dabei niemals allein um des Effekts willen originell. Intimität und Klarsicht, Einfühlung und Mut zur Verletzlichkeit, der eigenen wie der fremden, verbinden sich in ihren Gedichten zu einer nicht nur poetischen, sondern menschlichen Stärke, »ein dichter zusammenhalt durch den wir nicht fallen können«. Dorothea Grünzweig ist keine Entdeckung oder Empfehlung, sondern eine der großen deutschsprachigen Dichterinnen unserer Zeit.

Wallstein, Göttingen 2020, 136 Seiten, 24 €

Peter Urban-Halle, Henning Vangsgaard (Hg.)

Licht überm Land

Empfehlung von Nico Bleutge

»die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es«, lautet die wohl bekannteste dänische Gedichtzeile in deutscher Übersetzung. Und ihre Verfasserin Inger Christensen ist gewiss die bekannteste dänische Lyrikerin. Hans Christian Andersen und Pia Tafdrup werden hierzulande noch gelesen, vielleicht auch Søren Ulrik Thomsen oder Pia Juul. Nun zeigt uns die Anthologie Licht überm Land die dänische Lyrik als jenen »Springbrunnen« der Sprache, den Per Lange in einem seiner Gedichte besingt. In chronologischer Anordnung und zugleich genau komponiert ziehen sich die vielen hundert Gedichte über die Seiten, die dänischen Originaltexte sitzen wie kleine Säulen am Rand. Und so wandern wir von den mittelalterlichen Balladen bis in die unmittelbare Gegenwart, zu Lars Skinnebachs treibenden Rhythmen etwa oder den wundersamen Körpertexten von Olga Ravn. Unterwegs können wir den dänischen Expressionismus mit seinen Großstadtbildern entdecken, aber auch die konstellativen Arbeiten von Vagn Steen und Kirsten Thorup. 500 großartige Seiten – die dänische Lyrik gibt es, die dänische Lyrik gibt es!

Dänische Lyrik vom Mittelalter bis heute. Dänisch – Deutsch. Übersetzt von Peter Urban-Halle, Henning Vangsgaard u. v. a.

Hanser, München 2020, 487 Seiten, 36 €

Philippe Jaccottet

Die wenigen Geräusche. Späte Prosa und Gedichte.

Empfehlung von Christian Metz

Philippe Jaccottet gehört zu den wenigen lebenden Dichtern weltliterarischen Ranges. Der Band Die wenigen Geräusche versammelt Späte Prosa und Gedichte. Mit diesem bewundernswert konzentrierten Ausklang schloss der in Frankreich lebende Dichter im Jahre 2009 selbstbestimmt die Reihe seiner poetischen Publikationen ab. Seit Jahrzehnten kommt das deutschsprachige Publikum in den Genuss, Jaccottets literarische Arbeiten Einzelband für Einzelband in Übersetzungen von herausragender Qualität lesen zu dürfen. Besorgt werden diese Übersetzungen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Mit dem Erscheinen von Die wenigen Geräusche liegen Jaccottets Arbeiten (fast) vollständig auf Deutsch vor und zeigen ein poetisches Schaffen von höchster Sorgfalt, ausdifferenzierter Sensibilität und zärtlicher Exaktheit. Die wenigen Geräusche erlauben noch einmal, den großen Dichter auf seinen Spaziergängen durch die französische Landschaft zu begleiten und mit ihm die verborgenen Schönheiten am Wegesrand wie in der Himmelsweite zu bestaunen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.

Hanser, München 2020, 157 Seiten, 23 €

Thomas Kling

Werke in vier Bänden

Empfehlung von Marion Poschmann

Größter Monomane der deutschen Nachkriegslyrik, Verehrer von Beuys und George, Bauchredner für Klaus Kinski, Klassiker zu Lebzeiten – wie schaffte es ein Dichter aus Düsseldorf, eine ganze Generation von Lyrikern zu beeinflussen, selbst diejenigen, die ihn ablehnten? Durch die radikale Erneuerung des Sprachmaterials, die neue Sinnlichkeit der Wörter und die akribischen Schichtungen ihrer Bedeutung. An dieser zerkauten oder überartikulierten Sprache, angereichert mit Slang, Fachvokabular und Bildungsgut, kam niemand vorbei. In selbstbewusstem, aufgerautem Ton zeichnet Kling eine Geschichte der Gewalt nach und sammelt Spuren von Versehrtheit über die Jahrhunderte. In der Werkausgabe lässt sich verfolgen, wie die Zumutung des Todes schon in den frühen Gedichten zentrales Motiv ist und wie das Aufbegehren gegen diese Zumutung eine Hypersensibilität der Wahrnehmung, ja eine Zartheit verdeckt, die umso mehr erschüttert, je lässiger, lakonischer der Sound wird. Gemäldegedichte und Liebesgedichte, rheinische Landschaften, Wespen und Hirsche – ein Muss in jedem Bücherregal.

Herausgegeben von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix.

Suhrkamp, Berlin 2020, 2626 Seiten, 148 €

Anja Kampmann

Der Hund ist immer hungrig

Empfehlung von Michael Krüger

In dem Buch Vom Sein zum Leben des Sinologen François Jullien fand ich dieser Tage: „Spätestens seit Mallarmé liest man ein Gedicht nicht mehr einzig aufgrund seiner Leidenschaft für einen Sinn und wegen seiner Entschlossenheit, sondern auch, um zu erfahren, was es in einer nicht ‚logischen‘ Weise ‚zusammenhält‘, ja, was sogar den logos herausfordert, aber trotzdem ‚wirkt‘.“ Daran musste ich beim Lesen des wunderbaren zweiten Gedichtbandes von Anja Kampmann denken, dessen Ton und Anmutung mich vor jeder Wahrnehmung inhaltlicher Aspekte berührt hat. Ein grosser Teil dieser Gedichte beschäftigt sich mit Erinnerungen an eine Jugend auf dem Lande oder jedenfalls am Rand der Stadt; vom Elbstrand ist die Rede oder vom Duvenstedter Brook, von Renekloden und Korn, Knutschflecken und dem Schreien der Rinder und Kraniche. Aber es wird nicht abgehandelt, um es loszuwerden, weil „es einmal gesagt werden muss“, sondern um ein Gewebe herzustellen, eine Stimmung, um die Verfassung der 1983 geborenen Dichterin wiederzugeben: „verirrt sind wir / auf alte weise keucht der wind / ein ufer nach dem andern in das land / wo alles rätsel ist und abbricht / und ohne uns auch neu beginnt.“

Hanser, München 2021, 120 Seiten, 20 €

Dagmara Kraus

liedvoll, deutschyzno

Empfehlung von Kristina Maidt-Zinke

Drei Sprachen verschmelzen in den Texten von Dagmara Kraus zu einem einzigen Instrument, mit dem die in Polen geborene, in Deutschland aufgewachsene und in Frankreich lebende Lyrikerin eine wundersame, übermütige, zuweilen auch schwermütige Wortmusik erzeugt. Einsprengsel aus anderen Sprachen und Mundarten, aus Fachvokabularien ebenso wie aus Kinder-Idiomen und älteren Sprachformen fügen weitere Klangfarben hinzu. Aber es ist nicht nur ein synästhetisches Spiel, das hier in endlos erfinderischen Wortschöpfungen und Schnipselcollagen zelebriert wird, nicht nur die Reanimation der Konkreten Poesie im Zeichen des grotesken Humors, für den die Dichterin 2018 mit dem Kasseler Literaturpreis geehrt wurde: Darunter liegt ein feinmaschiges Netz aus Anspielungen und Verweisen, die in historische, politische oder poetologische Reflexionsräume führen, beginnend schon beim Titel des Bandes liedvoll, deutschyzno, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Das schmale Buch, als Augenweide gestaltet, wird dadurch zu einem Suchbild ohne Grenzen.

kookbooks, Berlin 2020, 76 Seiten, 19,90 €

Francis Ponge

Le Soleil / Die Sonne

Empfehlung von Michael Krüger

Wie entsteht ein Gedicht? Bei den Gelegenheitsgedichten ist es der Einfall, der zählt, der inspirierte Moment setzt etwas in Gang, an dessen Ende dann ein Gedicht steht. Goethe wollte 80 Prozent seiner Gedichte diesem Muster zuschlagen. Aber es gibt auch einen anderen Prozess der Entstehung, der Unmengen von Papier, Zeit, Durchhaltevermögen verbraucht, von anderen Eigenschaften abgesehen. Einen solchen Prozess kann man »verfolgen« oder auch studieren in dem fast 900-seitigen Buch, besser: Wunderwerk, das Thomas Schestak dem Poem Le Soleil / Die Sonne von Francis Ponge (1899–1988) gewidmet und dem der Verlag Matthes & Seitz das richtige Kleid verpasst hat. 1920 hat Ponge begonnen, sich auf seine Weise mit der Sonne zu beschäftigen, 1954 ist der Band Le Soleil placé en abîme (Die Sonne versetzt in den Abgrund) erschienen. Schestag präsentiert alle flüchtigen Entwürfe, Notizen, Überschreibungen, Streichungen, Zusätze und Abweichungen aus den 23 Kladden des Dossiers Le Soleil mit Übersetzungen – und am Ende den Text selber, der aus Ponges eigener Sicht ein Fragment blieb, denn, so sagt er selbst: »Der Vollkommenheit, der es an nichts mangelt, fehlt zur Vollkommenheit der Mangel an Vollkommenheit.« – Ein unauslesbares Buch!

Französisch – Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Thomas Schestag.

Matthes & Seitz, Berlin 2020, 883 Seiten, 98 €

Maria Stepanova

Der Körper kehrt wieder

Empfehlung von Joachim Sartorius

Maria Stepanova, 1972 in Moskau geboren, lässt ihrem Erinnerungsbuch Nach dem Gedächtnis, das sie hierzulande bekannt machte, nun einen Band mit drei Texten in der Tradition des russischen Langgedichts folgen. Sie vergegenwärtigen nicht nur beklemmende Aspekte der neueren Geschichte Russlands, sie halten auch die Poesie hoch, laut dem Titelgedicht die Heldin, »ein absurdes vieläugiges Wesen mit vielen Mündern«. Wie Joseph Brodsky in seiner grandiosen Schnee-Elegie John Donne anruft, wendet sich Stepanova an Anne Carson, an Inger Christensen und weitere Dichterinnen, ohne sie beim Namen zu nennen, doch in deutlichen Bezügen. Immer wieder überrascht sie mit kühnen Bildern. So kommt einmal die Seele angelaufen wie ein Hund, senkt ihren Kopf, prüft ihren Behälter: »Rollt sich drinnen ein, in Mulm und müdem Samt, / Streicht außen über Lederdeckel. / Siehe (...) Wie Fische auf der Ladentheke // sortiert sie deine Muskeln und Glieder.« Olga Radetzkaja hat diese weit ausholenden Gebilde, mit ihren Anklängen an Psalmen, Volksliedern, aber auch Ready mades aus der russischen Jetztzeit, fabelhaft übersetzt, mit genauestem Gespür für Metrik, Tonwechsel, Reim und assoziative Schwingungen.

Russisch – Deutsch. Übersetzt von Olga Radetzkaja.

Suhrkamp, Berlin 2020, 138 Seiten, 22 €

Anna Terék

Tote Frauen

Empfehlung von Uljana Wolf

»Das Meer ist voll mit Glasscherben. / Das Licht schneidet mich beim Schwimmen.« Wie ein antikes Heldinnenepos, aber in der Traumaschleuder tausendfach zersplittert. Der Gedichtband Tote Frauen der hierzulande noch unbekannten ungarischen Lyrikerin und Dramatikerin Anna Terék verknüpft bildgewaltige Sprache mit dem Gespür der Dramatikerin für Stimmen und Tableaus. Die Gedichte lassen fünf Frauen in knappen Splittern von ihren Leben und Körpern erzählen. Miteinander verwoben, versehrt von Krieg und Verlust, von der zirkulierenden Gewalt ihrer Väter, Ehemänner, Soldaten, Söhne. »Es heißt, der Vater sei / für das Kind eine Brücke / in die Außenwelt, / ein Weg aus jener tiefen, schwarzen Magengrube, / zu der die Mütter / die Familie machen«, sagt eine Frau mit verschwundenem Vater. Bekäme sie einen Sohn, würde sie ihn verschlingen, um »auch diese letzte, schwankende Brücke zu versenken«. Vielleicht sind diese Gedichte Protokolle aus der dunklen Magengrube, zu der die Welt die Frauen macht. Vielleicht sind sie Aussprachen – neue Brückenköpfe in die Welt, jenseits toxischer Gewalt. In jedem Fall eine Entdeckung, die lange nachwirkt, auch dank der virtuosen Übertragung von Eva Zador und der Lyrikerin Orsolya Kalász.

Aus dem Ungarischen übersetzt von Orsolya Kalász und Eva Zador.

KLAK, Berlin 2020, 145 Seiten, 15 €

Saul Tschernichowski

Dein Glanz nahm mir die Worte

Empfehlung von Florian Kessler

Odessa. Heidelberg. Lausanne. Swinemünde. Jerusalem ... Die Ortsnamen, die der Erneuerer der hebräischen Literatur Saul Tschernichowski, geboren 1875, gestorben 1943, oft unter seine Arbeiten setzte, erzählen ihre ganz eigene Geschichte. In einem ruhelosen Leben bis zu den späten Jahren in Tel Aviv und Jerusalem schuf er die neuhebräische Literatur mit, indem er sie dem europäischen Transfer öffnete: Er übersetzte aus der Weltliteratur in das Hebräische, während er dieser Sprache in seinen eigenen Dichtungen neue Genres und Versformen erschloss. Sein ungeheuer bildreiches, vielschichtiges, allegorisches Sprechen in Reimformen, seine Erinnerungen an die taurischen Dörfer seiner Kindheit oder auch das tausende Hexameter umfassende Epos Das goldene Volk, das den Gründungsmythos des hebräischen Volkes nachzeichnet, wurden bislang noch nicht oder nur in fragmentarischen Anfängen ins Deutsche übertragen. Jörg Schulte hat nun diese Leerstelle mit einer bewundernswerten Arbeit – unter Wahrung der ursprünglichen Metren – gefüllt. Und die Edition Rugerup hat Tschernichowskis Vermächtnis diese dreibändige Prachtausgabe geschenkt.

Hebräisch – Deutsch. Übersetzt von Jörg Schulte mit einem Vorwort von Aminadav Dykman unter Mitarbeit von Gundula Schiffer.

Edition Rugerup, Berlin 2020, 3 Bände, 900 Seiten, 99,90 €

Anja Utler

kommen sehen. Lobgesang

Empfehlung von Nico Bleutge

Eine Dystopie in Gedichtform. Eine Welt in einem späten 21. Jahrhundert, in der es kaum mehr Wasser gibt und die Sprache ebenso zerstückt ist, wie es die Lebensräume der übrig gebliebenen Menschen sind. Eine Mutter, die zu ihrer Tochter spricht, sie anspricht, wegspricht und dann wieder ganz nah zu sich heranspricht. Die Mutter streift durchs Zimmer, die Tochter hört zu oder »rennt hin und her in dem Sandloch in das / kein Gras sich mehr setzen wird«. Bei aller Härte der vielen Körperbilder ist den Versen auch eine fast ethisch zu nennende Zartheit eingeschrieben, eine große Aufmerksamkeit für die feinsten Regungen eines jeden Lebewesens. Hier kann man sich an »Blumentierchen« erinnern oder erfahren, »wie zappeln sich für eine Pflanze anfühlt«. Anja Utler arbeitet wort- und klangbetont, setzt auf Lücken im Sprechen und auf Paradoxien. So entsteht eine »Bewegung / wie still stehn stürzen« in einem vielfältig schillernden Text, der »an Dicke an wilder Dichte« kaum zu übertreff en ist.

Edition Korrespondenzen, Wien 2020, 127 Seiten, 18 €

Annemarie von Matt

Meine Nacht schläft nicht.

Empfehlung von Christian Metz

Ein Porträt in Originaltexten von Roger Perret.

Eindringliche Verse, alltägliche Notizen, Gefühlsminiaturen, festgehalten auf einem Meer von Zetteln. Hinzu kommen Zeichnungen, Malereien, Collagen und eine ausladende Briefkorrespondenz, bei der sich ein einzelner Brief schon mal auf bis zu 50 Seiten ausdehnen konnte. Seit dem Beginn der 2000er Jahre erschließt sich Schritt für Schritt der künstlerische Kosmos der Schweizer Malerin, Objektkünstlerin und Dichterin Annemarie von Matt. Mit dem Band Meine Nacht schläft nicht nimmt jetzt ihr literarisches Porträt Kontur an. Annemarie von Matt, 1905 in Luzern geboren, 1967 in Stans verstorben, war eine künstlerische Einzelgängerin. Ihre literarischen Arbeiten blieben zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. Als Miniaturistin ihres Lebens, Denkens und Fühlens, aber auch als akribische Abschreiberin, die ausschneidet, kopiert, montiert und sich selbst als »die Abgeschriebene« titulierte, war Annemarie von Matt eine absolut eigensinnige, vielfältige Literatin, die es erst noch zu entdecken gilt.

Limmat, Zürich 2020, 251 Seiten, 38 €

Ror Wolf

Alles andre: ungewiß

Empfehlung von Joachim Sartorius

Der 2019 verstorbene Ror Wolf schaffte es, zugleich sehr präsent zu sein und ein Geheimtipp zu bleiben. Michael Lentz hat aus Wolfs umfangreichem Werk eine Auswahl an Gedichten herausdestilliert, die auch die Wankelmütigen restlos betören können. Mich hat das Doppelbödige an Wolfs Gedichten immer angezogen. Das gespielt Ungelenke erinnert an Robert Walser. Aber unter der trügerischen Einfachheit verbergen sich zahllose Raffinessen. Zudem kannte sich Wolf im Komik-Fach prächtig aus, durchwirkte aber alle Heiterkeit mit Melancholie. Gern schlüpfte er in Alter Egos: Hans Waldmann, Raoul Tranchirer. »Im Auge der Nacht / 3. Achtung, wir werden beobachtet« lesen wir: »Waldmann, ein Beobachter des Lebens / vor den Fensterscheiben und des Schwebens // und des Reibens, weiter des Beschreibens / und des Bleibens und des Weitertreibens, / Waldmann sagt: Es ist das alte Lied. / Während durch die Nacht der Fremde flieht.« Ein kleines Selbstporträt. Waldmann freundet sich mit dem Fremden, seinem Double, an. Am Ende sitzen sie in der Küche, »auf dem Bier des Fremden etwas Schaum«. Solchen Szenen hat Wolf immer wieder Collagen zur Seite gestellt, die den Gedichten an Hintergründigkeit und surrealem Witz ebenbürtig sind.

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Lentz.

Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020, 222 Seiten, 26 €

Krišjānis Zeļģis

Wilde Tiere

Empfehlung von Marion Poschmann

Diese Gedichte erklingen vom Rand her, aus der Provinz, dem Kaff, aus einem der kleinsten Länder Europas, aus einem Land mit stetig sinkender Einwohnerzahl. Es sind Orte gezeichnet, an denen definitiv nichts los ist, Orte der Isolation, der Einsamkeit, der Melancholie. Nun ist die Randständigkeit häufig ein Merkmal des Dichters, weil es gewöhnlich nicht allzu viele Leute gibt, die sein Tun relevant finden, geschweige denn nützlich. Krišjānis Zeļģis gewinnt dieser Situierung eine anmutige Traurigkeit und Coolness ab, und die Erkenntnis der eigenen Lage am Rand des Geschehens erweckt Verständnis, ja Mitgefühl für andere Kreaturen, denen es ähnlich ergeht, seien es Bekannte, Passanten oder die titelgebenden »wilden Tiere«. Die Verbrüderung mit den Erniedrigten und Beleidigten im Postsozialismus führt zu einer kritischen Sicht auf die soziale Lage, aber auch zu einer anrührenden Rücksicht im menschlichen Umgang. Eine lakonische Sprache, die nicht viel Aufhebens macht, dafür umso genauer ist, umso überraschender, umso schöner.

Aus dem Lettischen übersetzt von Adrian Kasnitz.

parasitenpresse, Köln 2020, 75 Seiten, 12 €